Im November erschien das Buch „Das Schul-Drama … und wie wir unsere Kinder für die Zukunft stärken“ von Schule im Aufbruch-Gründerin Margret Rasfeld und Ute Puder. Die beiden lernten sich 2022 kennen und gründeten das RealLabor Leipzig, nachdem sie erschütternde Briefe von Schüler*innen eines Leipziger Gymnasiums erhielten. Aus diesem Impuls entstand das gemeinsame Buch, über das Tobias Feitkenhauer mit den beiden Autorinnen sprach.
Tobias: Liebe Ute, liebe Margret, euer Buch heißt „Das Schul-Drama“. Wo seht ihr denn das Drama in der Schule?
Margret: Das Drama in der Schule besteht darin, dass die Kinder und Jugendlichen keine Stimme haben, nicht gehört werden, sich dem System ausgeliefert fühlen und täglich beschämt werden. Dieses Thema wird tabuisiert und die Würdeverletzungen so verdrängt, dass die Kinder und Jugendlichen in den Funktionsmodus gehen. Dieser Modus hat Entfremdung, Konsum und auch immer Angst zur Folge. Das ist fatal, da Entfremdung die Ursache unseres ganzen planetaren Dramas ist.
Tobias: Wie hat sich denn das Drama in deiner Schulzeit gezeigt?
Ute: Ich habe in meiner Schulzeit kein Drama in Erinnerung. Aber meine Tochter, die jetzt 38 Jahre alt ist, sagt: „Erwähne nie wieder Schule“. Sie hat heute noch Alpträume von der Schule. Mein Sohn, der jetzt 28 ist, wurde in der vierten Klasse selektiert und danach sehr beschämt, weil er Mittelschüler war.
Eines Tages stand er dann im dritten Stock auf dem Balkon und sagte zu mir: „Mama, wenn ich jetzt hier runterspringe, ist das alles vorbei mit der Schule.“ Es war schrecklich. Diese Situation spüre ich noch heute in meinem Körper. Wir haben ihn dann sofort aus der Schule herausgenommen.
Tobias: Und an dieser Situation scheint sich nichts bis heute nichts geändert zu haben.
Ja, es ist eher schlimmer geworden. Starke negative Erfahrungen in der Schule sind in den letzten Jahren für viele Kinder und Jugendliche normal geworden. Wenn wir hier im Reallabor heute mit den Schülerinnen und Schülern sprechen, erzählen sie uns, dass sie mit ihren Eltern nicht über ihre Probleme in der Schule sprechen wollen, weil die Eltern von ihnen gute Noten erwarten.
Sie trauen sich auch nicht, mit ihren Lehrerinnen und Lehrern zu sprechen, weil sie Angst davor haben, schlechte Noten zu bekommen. Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich eingeklemmt. Das spüren wir und das können wir unseren Kindern nicht weiter zumuten.
Ich glaube auch, dass die meisten Menschen gar nicht verstehen, dass sich Schule stark verändert hat. Schule ist heute komplett anders als früher.
Tobias: Worin besteht diese Veränderung?
Margret: Im Vergleich zu heute war früher alles klar: Wenn du zur Hauptschule gehst, hast du diese Ausbildungen zur Auswahl. Wenn du einen Mittelschulabschluss hast, stehen dir jene Türen offen. Für die Eltern und Kinder gab es dadurch viele Sicherheiten. Dazu kommt, dass vor 15 Jahren klar war, dass es meinem Kind besser gehen wird als mir selbst.
Das alles ist in Frage gestellt. 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen werden in Berufen arbeiten, die es noch gar nicht gibt. Dazu kommen die globalen Krisen, die natürlich auch die Kinder und Jugendlichen belasten. Gleichzeitig werden sie mit kognitiven Inhalten überschüttet.
Sie müssen jetzt lernen, mit disruptiven Veränderungen umzugehen. Aber stattdessen fragen sich die Kinder und Jugendlichen, weshalb sie Stoff lernen, der schon vor 50 Jahren in Schulbüchern stand und dazu wöchentlich sechs bis acht Tests und Klausuren schreiben. Kognitiv werden sie überfordert und mit dem ganzen sozialen Potenzial und Herzpotenzial, das in ihnen steckt, unterfordert.
Tobias: Es werden viele Bücher über die Veränderung von Schule geschrieben. Was macht das Schul-Drama besonders?
Margret: Also das Schul-Drama ist nur im ersten Teil ein Drama. Der zweite Teil heißt „Wie wir unsere Kinder für die Zukunft stärken“. Im Drama-Teil werden alle Sachthemen wie der überalterte Leistungsbegriff, der Ungeist der Selektion, Scham und Beschämung mit Zitaten aus Briefen von Jugendlichen, wie es ihnen in der Schule wirklich geht, unterlegt. Normalerweise wird über Kinder und Jugendliche gesprochen. In diesem Buch kommen sie selbst zu Wort. Insofern kann man dieses Buch auch nicht weglegen, da die persönlichen Schmerzen der Kinder so stark rüberkommen.
Ute: Der zweite Teil macht uns Hoffnung. Denn es gibt vieles, was uns Hoffnung machen darf. Es gibt ein Kapitel mit dem Titel „Alles ist schon da“. Dort zeigen wir auf, dass die neue Bildungsethik oder Bildungsarchitektur, die es braucht, schon existiert. Wir zeigen konkrete Beispiele auf und stellen Schulen vor, die dies im aktuellen System umsetzen. Es gibt viel mehr Freiheiten und Möglichkeiten, als wir denken – und die machen wir sichtbar.
Tobias: Ein Buch zu schreiben ist immer auch eine Reise. Was nehmt ihr denn aus dieser Erfahrung für euch persönlich mit?
Margret: Wir mussten das Buch in vier Wochen schreiben. Dazu kamen noch eine mehrwöchige geistige Auseinandersetzung und der Austausch vor dem Schreiben. Uns hat diese klare Deadline ermöglicht, alles auf den Kern und das Wesentliche zu konzentrieren, um das es wirklich geht: Einen Reset und einen tiefgreifenden Haltungswandel in Schule.
Ute: Für mich war diese Reise auch eine ganz starke Beziehungsarbeit, in der wir uns und auch die Themen des Buchs immer wieder reflektiert haben. Vor allem haben wir uns die Frage gestellt: Sind wir wirklich in der Tiefe?
Tobias: Ich würde behaupten, dass das sehr gelungen ist. Was möchtet ihr den Leser*innen eures Buchs persönlich mit auf den Weg geben?
Margret: Ich wünsche mir, dass sie sich tatsächlich berühren lassen und daraus den Mut schöpfen, jetzt ins Handeln zu gehen und sich mit anderen zu verbinden.
Ute: Ich wünsche den Leser*innen, dass sie beginnen, die Dinge nicht mehr so streng zu sehen. Sie sollen sich von ihrer diffusen Angst befreien, um sagen zu können: „Auch ich kann in der Schule selbstwirksam werden” und dann sollen sie direkt heute anfangen, Dinge zu verändern.
Tobias: Vielen Dank für das Interview!