Paradigmen-Wechsel für die Berufsorientierung

In vielen unserer Schulen befinden sich die Schüler:innen während ihrer Schulzeit wie in einem Zug auf einem Gleis. Manche brechen aus und springen ab. Die allermeisten folgen dieser vorgegebenen Schiene aber bis zu einem Abschluss, der Endhaltestelle des Zuges. Eine Weiterfahrt ist spätestens nach dem Abitur nicht möglich, alle müssen aussteigen und sich neue Verkehrsmittel für die Weiterreise suchen. Das ist aber eine echte Herausforderung, insbesondere wenn sie vorher immer nur den Anweisungen des Zugpersonals Folge geleistet haben!

Mit dem Ende der Schulzeit stellt sich die Frage, was ein junger Mensch nun macht – mit seiner Zeit, seinem Leben. Man könnte meinen, es öffnet sich die große Freiheit mit unzähligen Möglichkeiten und endlich der Gelegenheit für eigene Entscheidungen. In der Realität wird diese Lebensphase aber als sehr herausfordernd erlebt: Mit viel Druck von außen und großen Erwartungen des Umfeldes. Und leider fehlt oft ein guter Kompass für diese Zeit, wenn man den Schul-Zug verlassen hat.

Woran liegt das? Was brauchen junge Menschen wirklich? Und wie können neue Bildungskonzepte an Schulen einen positiven Beitrag leisten für die Orientierung im Leben nach der Schule?

Vorweg: Ein Blick auf die Faktoren, die für junge Menschen hilfreich sind, um gut durch die wilde Phase der Berufsorientierung zu navigieren. Da sind zum Beispiel:

  • Eine Portion Mut und Gelassenheit – und das Wissen, dass es um erste Schritte und nicht um die finale Entscheidung für ein ganzes Leben geht.
  • Die bereits gemachte Erfahrung von Selbstwirksamkeit: Ich kann etwas bewirken in der Welt.
  • Die Kenntnis der eigenen Qualitäten und Fähigkeiten – jenseits von Schulfächern und Noten  – und ein innerer Kompass als Wegweiser.
  • Lust auf Lernen – in welchem Format auch immer.
  • Ausreichend Eigen.Sinn, was meint, zu wissen, wer man ist, und was man damit machen kann.

Warum schafft Schule es in ihrem traditionellen Format meist nicht, hier wirklich zu unterstützen? Weil mehr Wert auf den Erwerb von Wissen als auf Soft Skills gelegt wird, weil der Blick nur punktuell (wenn Berufsorientierung gerade kurz dran ist) auf die Zeit nach der Schule gerichtet wird, und weil es insgesamt eher wenig Verbindung nach außen in’s echte Leben gibt.

Hier 4 Gedankenanstöße, was und wie Schule beitragen könnte zu der Lebensphase nach der Schule:

  • Mehr „RAUS aus der Schule“: Mehr Praktika in Unternehmen, Förderung von Lernen über Engagement in der Gesellschaft, und die Möglichkeit, eigene kleine Projekte in die Welt zu bringen. Die Idee: Echte Probleme lösen, echte Erfahrungen machen und die eigenen Fähigkeiten dabei erkennen.
  • Mehr „Rein in die Schule“: Die Komplexität unserer gesellschaftlichen Herausforderungen könnte schon in der Schule abgebildet werden, z.B. durch die Vernetzung der Fächer und Themen. Und die Übernahme von selbstgewählter Verantwortung könnte in die Schule hineingeholt werden. 
  • Neue Formen von Feedback: Die Noten spiegeln immer nur einen Teil der Fähigkeiten wieder. Hilfreich sind individuelle Rückmeldungen – jenseits von Ziffernnoten – über die Stärken und Qualitäten. Das wird möglich durch echte Beziehung und das Gefühl, gesehen zu werden, etwas Wert zu sein und viel zu können. Auch wenn die Noten das gerade nicht widerspiegeln.
  • Gemeinsamer Blick hinter die Endhaltestelle: Lehrer:innen können gemeinsam mit den Schüler:innen über die Schulzeit und den Endbahnhof des Abschlusses hinaus blicken – die Zeit und das Leben nach der Schule thematisieren. Großartig wäre dazu ein Schulfach oder Projektkurs „Orientierung“, wo dieses Thema fest verankert wird. Oder die viel offensivere Ankündigung von Orientierungsangeboten (jenseits von standardisierten Testverfahren).

Tatsächlich trägt der bereits stattfindende Wandel in Schulen hin zu mehr Potentialentfaltung immer auch einen wichtigen Teil zur beruflichen Orientierung bei. Ganz konkret z.B. das Projekt FREI Day, in dem es nicht nur um selbstgewählten Wissenserwerb, sondern um die konkrete Umsetzung in Projekten geht, die auf alle o.g. wichtigen Faktoren einzahlt.

Liebe Lernbegleiter:innen auf neuen Wegen: Richtet euren Blick hinter den Endbahnhof Schulabschluss und strahlt aus, dass 

  • Orientierung von innen heraus geschehen muss und nicht allein im Außen durch die Kenntnis der unzähligen Ausbildungsberufe oder Studiengänge gelingt,
  • ein Perspektivwechsel und die Öffnung des Blicks auf die Vielfalt an Wegen hilfreich ist,
  • diese Phase Zeit braucht und eine Portion Gelassenheit,
  • es nicht um die möglichst schnelle Wahl eines Berufes geht, sondern um die Entscheidung für einen ersten Schritt, einen Weg, ein Thema.

So stärken wir schon vor dem Ausstieg aus dem Schul-Zug junge Menschen, ihren echten eigenen Weg zu gehen.

Mehr Inspiration gibt es beim kostenfreien Eigen.Sinn Online Summit zur Berufsorientierung der Rebels Academy vom 19. – 23.6.2021: www.summit.rebels-academy.com. Spannend für Lehrer:innen und Schüler:innen. Gute Reise!

Autorin: Corinna Tierhoff, Rebels Academy

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