Nicht nur die wiederkehrenden Enttäuschungen in den PISA-Studien belasten das Bildungssystem, auch die zunehmenden psychischen Erkrankungen bei Schülern und Lehrkräften geben Anlass zur Sorge. Hinzu kommt das wachsende Unbehagen sowohl bei den Schülern als auch bei Unternehmen darüber, dass die vermittelten Inhalte nicht den Anforderungen der realen Welt entsprechen. Schüler brauchen neue Kompetenzen, um den Herausforderungen unserer Zeit aktiv begegnen und ihre Zukunft selbstwirksam und gesund gestalten zu können.forum sprach dazu mit Dr. Arist von Hehn, Lead Schultransformation bei Schule im Aufbruch, wie dieser Transformationsprozess gelingen kann.
Herr von Hehn, was muss sich an Schule verändern?
Die Fähigkeiten, die Menschen für ein zufriedenes und beruflich erfolgreiches Leben benötigen, verändern sich rasant. Es geht zum Beispiel nicht mehr nur darum, lesen zu lernen, sondern gelesene Informationen kritisch einzuordnen, zu interpretieren und schließlich neue Fragen, kreative Antworten und neues Wissen zu schaffen. Nur so entwickeln sich Schüler von passiven Wissensempfängern zu aktiv Forschenden. Nur wenn sie in Teams projektbezogen selbst Veränderung bewirken können und Selbstwirksamkeitserfahrungen sammeln, üben sie “future skills” wie Kommunikation, Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken. Gleichzeitig ist nötig, stärker zu personalisieren, um individuellen Lern- und Entwicklungsgeschwindigkeiten besser gerecht zu werden und die Kinder in ihrem Potenzial zu fördern.
Auf der Ebene von Schulkultur und Führung müssen wir weg von Autorität aus Macht hin zu gegenseitigem Respekt auf Augenhöhe, mit Raum, früh Verantwortung zu übernehmen, etwa durch demokratische Prozesse und Lernformate wie “Herausforderung” oder “Verantwortung”. Die räumliche Anpassung von Schule als Lern- und Lebensraum an diese sich verändernden Anforderungen ist unumgänglich.
Wie kann das gelingen?
Damit das gelingt, erneuern wir sozusagen das “Betriebssystem”, anstatt auf ein veraltetes und überlastetes System immer wieder neue Programme aufzuspielen. Es geht um das Lösen von adaptiven Herausforderungen, um die Veränderung innerer Haltungen und grundsätzlicher Arbeitsweisen. Echte Teamarbeit zum Beispiel ist in der klassischen Unterrichtsstruktur weder vorgesehen noch nötig. Nur: Ohne Teamarbeit kann man Schule nicht verändern. Es braucht einen ganzheitlichen Ansatz aus Lernkultur, Schulkultur, Schule als Lern- und Lebensraum, Wirkung der Schule in der Gesellschaft sowie Führung und Schulentwicklung.
Können Schulen solch tiefgreifende Veränderungen ohne Unterstützung von außen schaffen?
In Unternehmen gibt es Strategie-Verantwortliche, Personalentwicklung, Budgets für Organisationsentwicklung und Change Management. All das gibt es in Schulen nicht. Insofern ist es völlig normal, dass nur wenige Schulen einen solchen Prozess alleine hinkriegen. Hier kann Schule im Aufbruch helfen. Wenn sich eine Schulgemeinschaft zur Kooperation entscheidet und ein schulinternes Team, das sogenannte Wandelteam, gebildet hat, wird dieses von unseren externen Transformationsbegleitern über etwa zwei Jahre im Veränderungsprozess dabei unterstützt, die Schule von innen heraus strategisch und inhaltlich zu verändern.
Zusätzlich wird die Organisationskultur mit dem sogenannten Loop-Approach weiterentwickelt. Dieser nutzt Werkzeuge der agilen Organisationsentwicklung wie spannungs- und rollenbasiertes Arbeiten, Stärkenorientierung und grundlegende Entscheidungen für eine effektive und agile Teamarbeit.
Gibt es Best Practices, wie Transformation gelingt?
Da gibt es viel zu lernen, gerade aus gescheiterten Veränderungsprojekten. Wichtige Prinzipien für den Erfolg sind:
- Schul-Ownership: Die ganze Schulgemeinschaft muss einen solchen Prozess aktiv wollen. Wichtig, damit die Energie für einen solchen Veränderungsprozess entsteht, ist eine starke, gemeinsame Vision für die Schule.
- Empowerment: Im Mittelpunkt steht von Anfang an der Kompetenzaufbau für das eigenständige Weiterführen des Transformationsprozesses.
- Impact-Orientierung: Veränderung muss möglichst schnell für Schüler und Lehrer spür-, sicht- und messbar werden.
- Holistisches Handeln: Schule als ganzes System muss in den Blick genommen werden und der Blick darauf braucht neben analytischem Denken auch Verständnis für die mit Veränderung verbundenen Erfahrungen und Emotionen.
- Beziehungsorientierung: Arbeit auf Augenhöhe und mit Wertschätzung. Beides ist nicht selbstverständlich im hierarchischen und defizitorientierten System Schule.
Wie können Unternehmen, wohlhabende Personen und wir alle mitwirken, um den Wandel der Schulen zu unterstützen und voranzutreiben?
Unternehmen und wohlhabende Personen können zum einen Bildungsorganisationen fördern, die sich für eine transformative Bildung einsetzen. Zum anderen können sie Schulen in ihrer Region den Transformationsprozess finanzieren. „Schule im Aufbruch“ ermöglicht einer Schule beispielsweise eine zweijährige Transformationsbegleitung für 25.000 Euro. Und: Wir alle können Schulen, Politik und Verwaltung ermutigen, Veränderungen anzugehen und damit als gutes Beispiel zu wirken.
Was kann die Politik tun?
Schulen brauchen mehr Freiraum, inhaltlich und finanziell. Vor allem sollten sie sich lösen von der Kultur der Angst, die im Schulsystem auf allen Ebenen herrscht. Dafür braucht es mehr Ermutigung zu Selbstentwicklung und Innovation sowie weniger Maßregelung.
Innovative Schulen sollen? müssen? einbezogen werden. Sie wissen, was der Neugestaltung von Schule im Weg steht. Entscheidend ist auch: Schulen brauchen finanzielle Spielräume zur Gestaltung von Veränderung und für externe Unterstützung.
Herr von Hehn, wir danken für das Gespräch und wünschen viel Erfolg bei der Veränderung des Schulsystems.
Der Transformationsbeschleuniger
Arist von Hehn ist promovierter Jurist und war Berater für Strategie- und Organisationsentwicklung bei der Unternehmensberatung McKinsey & Company, bevor er Mitgründer und Geschäftsführer der Teach First Deutschland gGmbH wurde. Nach weiteren Stationen bei dem globalen Bildungsnetzwerk Teach For All in New York als Vice President, Strategy & Governance, und beim Aufbau eines Train-the-Trainer-Programms für Achtsamkeit an Schulen ist er seit knapp zwei Jahren bei Schule im Aufbruch gGmbH verantwortlich für die Begleitung von Schulen in Transformationsprozessen.
Die Schul-Transformatoren
Es gibt mittlerweile viele Initiativen, Organisation und Bündnisse, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, mit neuen Programmen und Angeboten Schulen nachhaltig und zukunftsfähig zu gestalten. Eine Auswahl finden Sie nachfolgend:
Schule im Aufbruch unterstützt Schulen auf ihrem Weg zu einer zukunftsfähigen Schul- und Lernkultur mit transformativen Begleitprogrammen und innovativen Lernformaten.
beWirken unterstützt Schulen und Bildungseinrichtungen dabei, eine Kultur der Partizipation und des sozialen Miteinanders zu etablieren.
Die Initiative Neues Lernen fördert innovative Ansätze und Methoden in der Bildung, die darauf abzielen, Schülern ein zeitgemäßes und ganzheitliches Lernumfeld zu bieten, das ihre individuellen Bedürfnisse und Potenziale berücksichtigt.
Schultransform unterstützt Schulen bei der Transformation ihrer Lehr- und Lernkultur, um eine zeitgemäße und ganzheitliche Bildung zu ermöglichen.
Teach First Deutschland rekrutiert und bildet Hochschulabsolventen verschiedener Fachrichtungen zu Lehrkräften aus, die an benachteiligten Schulen arbeiten, um Bildungsungleichheit zu bekämpfen und Chancengerechtigkeit zu fördern und diese Absolventen langfristig für das Bildungssystem zu gewinnen.
Forum Bildung Digitalisierung setzt sich für die sinnvolle Integration digitaler Medien und Technologien in den Bildungsalltag ein und fördert den Dialog zwischen Bildungspolitik, Wissenschaft, Wirtschaft und Praxis.
Bundesverband Innovative Bildungsprogramme
Der Bundesverband Innovative Bildungsprogramme fördert innovative Bildungsprojekte und -programme sowie den Austausch zwischen Bildungsakteuren, um die Qualität und Vielfalt der Bildungslandschaft in Deutschland zu stärken.
Netzwerk Stiftungen und Bildung
Das Netzwerk Stiftungen und Bildung vernetzt Stiftungen, Bildungsakteure und Experten, um innovative Projekte und Programme zu fördern, die die Qualität und Zugänglichkeit von Bildung verbessern und soziale Chancengerechtigkeit fördern.
Dieses Interview erschien zuerst im forum Nachhaltig Wirtschaften, Ausgabe 03/2024. Vielen Dank!